Konflikte sind lästig aber allgegenwärtig – Ein Blick hinter die menschlichen Kulissen könnte helfen

Spannungen, Gegensätze und Konflikte gehören zu unserem täglichen Leben. Sie entstehen, da jeder Mensch seine eigenen Erwartungen, Bedürfnisse und Wertvorstellungen hat, die er realisieren möchte. In Unternehmen kommt es durch die beiden, scheinbar schwer zu vereinbarenden Zielsetzungen – einen hohen Gewinn zu erwirtschaften und zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen – zu einer Vielzahl von sozialen Konflikten.

Hier kann es hilfreich sein, sich ein bekanntes Persönlichkeitsmodell anzusehen und als Ansatzpunkt zum Verständnis von sozialen Konflikten zu nehmen. Es geht zurück auf die beiden Sozialpsychologen Fritz Riemann und Christoph Thomann. Nach deren Erkenntnis hat jeder Mensch unterschiedlich ausgeprägte Grundstrebungen. Diese bewegen sich zum einen zwischen den Polen „Nähe“ und „Distanz“ und zum anderen zwischen den Polen „Dauer“ und „Wechsel“.

Wir sind also mehr Nähe- oder mehr Distanzmensch und haben – bezogen auf das Arbeitsumfeld – entsprechend unterschiedliche Bedürfnisse.

Der Mensch, der nach Nähe strebt, braucht:

  • freundlichen und offenen Umgang
  • gegenseitige Hilfestellung
  • persönliches Interesse
  • vertrauensvolle und verbindliche Zusammenarbeit

Der Mensch, der nach Distanz strebt, braucht:

  • Abgrenzung
  • Unabhängigkeit
  • Eigenen Aufgabenbereich
  • Eigene Entscheidungsspielräume
  • Sicherheitsabstand

 

Ein Beispiel aus der Praxis
Max, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter einer Universität, erzählte in einem Coaching von den Schwierigkeiten, die er mit seiner Kollegin Anna habe, die „immer über Persönliches reden will, sich für alles zuständig fühlt und sich zu sehr in meine Arbeit einmischen will.“ Er hingegen komme in sein Büro, wolle seinen Job machen und seine Ruhe haben, sich nicht über seine Projekte und persönlichen Interessen austauschen. Mittlerweile arbeite er öfters im Home Office, da ihn Anna so nerve.

Hier treffen ganz offensichtlich verschiedene Bedürfnisse aufeinander, nämlich Annas Bedürfnis nach Nähe und Max’ Bedürfnis nach Distanz. Statt sich aus dem Weg zu gehen, das Thema in sich reinzufressen (und dann irgendwann zu explodieren), sollten diese gegensätzlichen Bedürfnisse respektiert, aber auch kommuniziert werden. Woher soll man denn sonst auch wissen, wie der andere so tickt? In diesem Fall nahm Max sich vor, Annas Bedürfnis zu respektieren und sich etwas mehr mit ihr auszutauschen, ihr aber auch zu sagen, dass er beim Arbeiten Abstand braucht und nicht so gerne ausführlich über seine Projekte berichtet. Dies habe aber nichts mit ihr persönlich zu tun.

Zudem sind wir mehr Dauer- oder mehr Wechselmensch.

Der Mensch, der nach Dauer strebt, braucht:

  • Sicherheitserleben
  • Ordnung
  • Struktur
  • Überschaubarkeit
  • Verlässlichkeit

Der Mensch, der nach Wechsel strebt, braucht:

  • Veränderung
  • Neue Aufgaben und Herausforderungen
  • Neue Teammitglieder
  • Neue Projekte
  • Umstrukturierung / Change
  • Firmenwechsel
  • Auslandsaufenthalte

 

Ein persönliches Beispiel aus der Praxis
Während der gemeinsamen Arbeit an einem Seminarkonzept stresste mich eine Kollegin, die Termine für Absprachen sehr kreativ auslegte und deren Input eher unstrukturiert daherkam. Nach etwas hin- und her schlug ich vor, das Konzept alleine zu erarbeiten und dann gemeinsam zu diskutieren. Sie nahm dankend an, eröffnete mir, Struktur und Planung sei nicht ihre Stärke und freute sich über das klar strukturierte Konzept, das ich ihr nach ein paar Tagen vorlegte. Wir verteilten die Aufgaben und führten den ersten Seminartag erfolgreich durch.

Dann kann etwas Unerwartetes: Der Veranstalter offenbarte uns, dass die Räume überbucht seien und bat uns für den zweiten Tag in neue, noch leere Räume des Unternehmens zu wechseln. Die Räume würden aber von seinen Mitarbeitern rechtzeitig vor Seminarbeginn vorbereitet, all unser Material, Pinnwände, Flipcharts, etc. würden in das gegenüberliegende Gebäude geschafft. Als ich am nächsten Morgen das Gebäude betrat, waren die Räume allerdings noch leer und ungeheizt. Meine Kollegin schleppte Stühle, Pinnwände; Moderationskoffer. Ich kochte innerlich, fühlte mich blockiert und begann zu helfen. Nach 5 Minuten nahm mich meine Kollegin in den Arm und sagte: „Nina, ich weiß ja, du bist ein Dauertyp und das stresst dich jetzt total, aber wir bauen jetzt auf und machen es dann einfach so, wie es kommt. Und zur Not fangen wir eben später an.“ Uff! Diese fröhliche Unkompliziertheit. Mir, die immer alles im Griff hat, wurde Loslassen verordnet. Meine Kollegin schien sich in dem kreativen Chaos geradezu wohlzufühlen und nahm das (mein) Ruder in die Hand. Wir bauten auf, die ersten Teilnehmer kamen und halfen mit, besorgten Wasser und Kaffeemaschine, die Stimmung wurde angesichts der Absurdität lustig und wir begannen den zweiten Tag – etwas verschwitzt – aber mit nur wenig Verspätung.

Die Seminarteilnehmer gaben am Ende folgendes Feedback: „Super Konzept und gut strukturierte Inhalte, klasse eure Flexibilität mit den Raumproblemen.“ So gut können Wechsel- und Dauertypen zusammenarbeiten, wenn sie sich respektieren und kommunizieren.

Das Persönlichkeitsmodell von Riemann / Thomann eignet sich als gutes Raster zur Selbstreflexion und zur Erklärung von Verhaltensunterschieden. Es stellt damit eine gute Konfliktprophylaxe dar. Zu beachten bleibt, dass jeder Mensch Anteile an allen vier Grundstrebungen in sich trägt, allerdings in unterschiedlich starker Ausprägung. In Stresssituationen (= z.B.Konflikt) neigen wir dazu, gemäß unseres Heimatgebietes zu reagieren. Und – last, but not least: Jede Grundstrebung hat ihre positiven und negativen Seiten. Von Wertungen sollte man sich also fernhalten.